Musik gegen Windmühlen

von Quijote

Kalavryta, Athen-Kaissariani - eine griechische Reise 2005

von Ludwig Streng, QUIJOTE

Konzert-Foto: Quijote

21. Mai 2005, 4.45 Uhr, Flughafenhotel Berlin-Tegel. Ein Croissant, ein schneller Kaffee, Wolfram wartet schon, er ist die Nacht durch gefahren. Wir laden die Instrumente und die Taschen ein, und ab gehts die paar hundert Meter zum Flugplatz. Der Check-in-Schalter ist schnell gefunden, Tickets abholen, Reisegepäck aufgeben. Plötzlich: - Was ist das? Eine Gitarre. Das geht nicht ins Handgepäck! - Das geht ins Handgepäck, schon immer. - Also gut, ich rufe an, wenn es Probleme gibt, lasse ich Sie ausrufen -. Natürlich ruft uns keiner aus. Auf einmal ist viel Zeit. Der Flieger geht ja erst 6.30 Uhr. Haben wir alles, nichts vergessen? Textmappe, Programmablauf, Kapodaster. Die Grußbotschaft der Chemnitzer VVN-BdA an die Widerstandskämpfer in Kaissariani hatte uns in letzter Minute per Fax im Hotel erreicht… Im Transitraum eine Bar, jetzt in Ruhe ein Kaffee, nochmal tief Luftholen: Griechenland wartet auf uns! Heute abend Konzert in Kalavryta auf dem Peloponnes, 200 km von Athen entfernt. Einer der Orte, in denen deutsche Wehrmacht und SS im 2. Weltkrieg ihre schrecklichen Massaker verübten, als „Vergeltung“ für getötete deutsche Soldaten wahllos Frauen, Kinder, Greise umbrachten. Plötzlich sind die Bilder vom vergangenen Jahr wieder ganz deutlich: Distomo, das Amphitheater, die Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Massakers von Distomo. Und wir als Deutsche singen Theodorakis, in unserer Sprache. Der Beifall, die vielen Hände, die sich uns entgegenstrecken, die Umarmungen. Unvergeßlich. Dieses Jahr also, zum 60.Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zwei Konzerte: Heute Kalavryta, morgen Athen, im traditionellen Arbeiterbezirk Kaissariani. Endlich der Aufruf, eine halbe Stunde Verspätung, aber das Wetter ist gut, wir sind pünktlich in Mailand, dort noch mal zwei Stunden warten, dann weiter nach Athen, kurz nach zwei sind wir da.

Konzert-Foto: Wolfram Hennig

Ein erster Blick auf die Berge, ein tiefer Atemzug. Wir sind wieder in Griechenland! Natalia Sakkatou, unsere Betreuerin und Dolmetscherin, erwartet uns schon. Ihr vor allem ist das Zustandekommen der Konzerte zu verdanken. Eine herzliche Umarmung, dann schnell alles ins Auto, die Zeit ist knapp, schon sind wir auf dem Weg nach Kalavryta. Die Ägäis ist wirklich so blau, wie man es von Postkarten kennt… Ich schaue aufs Meer, kann mich nicht sattsehen, Wolfram schläft, er muß nachholen von der kurzen Nacht, Sabine und Natalia gehen die Zwischentexte fürs Konzert durch, feilen an den Übersetzungen. Wir verlassen die Fernstraße, es geht bergauf, die Aussicht ist phänomenal. Rechts hinter uns das Meer, links vor uns die Berge, als ob alles miteinander verschmilzt. Und wir mittendrin. Gegen 17 Uhr sind wir in Kalavryta, im Saal ist alles bestens vorbereitet, uns bleibt nicht viel zu tun: Instrumente auspacken und stimmen, Raumklang testen, alles funktioniert. 18 Uhr gibt es dort eine Gesprächsrunde, das Konzert soll 20.30 Uhr beginnen, also noch Zeit, zum Hotel zu fahren. Ein wenig ausruhen, Konzentration sammeln. Inzwischen hat das Fußballpokal-Endspiel zwischen Piräus und Saloniki begonnen, halb Griechenland sitzt vor dem Fernseher. Ab 22 Uhr dann die Übertragung vom Grand Prix aus Kiew, das zieht nochmal soviel Zuschauer. Und zwischendurch unser Konzert. Es ist mittlerweile 21 Uhr, langsam neigt sich die Gesprächsrunde ihrem Ende entgegen. Eine kurze Ansprache des deutschen Botschafters, Dr. Albert Spiegel, der diese Veranstaltung maßgeblich mit initiiert hat, nun sind wir dran. Beim zweiten Lied, „Nur diese eine Schwalbe“, beginnen die Zuschauer mitzusummen. Unsere Begrüßung, Gedanken zum 60. Jahrestag der Befreiung, in Deutschland, in Griechenland, zu neuen Nazis in europäischen Parlamenten. Der Beifall kommt spontan, wir werden verstanden. Das Konzert ist intensiv wie selten, der Funke springt über, bei den bekannteren Liedern singen die Leute, leiser oder lauter, mit, die beiden Sprachen vermischen sich. Dann „Asma Asmaton“ – das „Lied der Lieder“ aus dem Mauthausen-Zyklus. Atemlose Stille, das geht auch uns unter die Haut. Das letzte Lied, „Drei Leben“, Sabine singt zwei Strophen in griechisch, das Saxophon verklingt, Stille, dann langer Beifall, die Zuschauer stehen auf. Der stellvertretende Bürgermeister spricht einige Dankesworte, er überreicht uns, den Deutschen, eine Miniatur-Nachbildung des Mahnmals für die Opfer des Massakers in Kalavryta. Dazu ein Buch, eine Dokumentation der Zerstörung des Ortes, Fotos von Kalavryta vor dem Krieg und nachdem die Faschisten durchgegangen sind. Die Bilder sind grausam, doch sie verhindern das Vergessen. Nun, das Konzert ist vorbei, kommen die Leute auf uns zu - wir haben das im vergangenen Jahr schon in Distomo erlebt – reichen uns die Hände, umarmen uns, danken uns, es ist ein Verstehen ohne Worte. Ich glaube, nicht einer der Zuschauer hat den Saal verlassen, ohne uns wenigstens zuzulächeln. Jetzt, schnell zusammengepackt, die Instrumente verstaut, nur ein paar Meter entfernt in einem Gasthaus gibt es einen Empfang, der Bürgermeister von Kalavryta und der deutsche Botschafter haben eingeladen. Eine typisch griechische Kneipe, lange Tische, in der Mitte die Teller mit verschiedenen Speisen, jeder nimmt sich, was er mag, man sitzt beieinander, kommt ins Gespräch, der Wein geht nicht aus, wunderbar. Langsam fällt die Spannung des Tages von uns ab. Doch da ist noch der Fernseher. Enorm laut geht es in die letzte Runde des Grand Prix in Kiew. Die Aufmerksamkeit pendelt zwischen den Diskussionen und der Live-Übertragung hin und her. Germany: 12 Points for Greece! Als feststeht, daß Griechenland gewonnen hat, ist der Jubel groß und für einen Augenblick alles andere vergessen. Eben das Leben. 

Konzert-Foto: Sabine Kühnrich

Zum Glück bedauert uns keiner ob des letzten Platzes… Auf dem Weg zum Hotel schnell die Planung für den nächsten Tag, es gibt Frühstück bis 11, wir können also etwas Schlaf nachholen. Irgend jemand treibt noch eine Flasche Wein auf, wir sitzen im Garten des Hotels, die Nacht ist warm, eine Nachtigall schlägt an – wie lange habe ich keine Nachtigall mehr gehört? Der nächste Morgen, wir frühstücken im Garten, die Sonne steht schon hoch. Noch ein Blick auf die Berge, ein paar Fotos vom Hotel und von Kalavryta, dann geht es nach Athen. Schon von weitem grüßt der Likavitos, die Stadt breitet sich schier unendlich. Gegen 15 Uhr kommen wir an, das Hotel liegt genau zwischen Syntagma und Plaka, alles in fünf Minuten zu Fuß erreichbar. Es ist angenehm klein, nicht luxuriös, es ist alles da, was man braucht. Und als Zugabe der direkte Blick vom Balkon auf die Akropolis. Sabine und ich haben Hunger, gleich um die Ecke ein kleines Restaurant, von Touristen verschont. Wir versuchen uns englisch zu verständigen, dem Besitzer rutschen immer wieder deutsche Worte in die Rede, uns auch. Wo kommt ihr her? Aus Deutschland. Ich habe da auch einige Jahre gelebt. Speisekarte? Ach was, kommt mit, schaut selbst und sucht euch aus. Gegen halb sieben fahren wir los, Wolfram war schon mal kurz in der Plaka, hat jetzt auch ein echt griechisches Hemd fürs Konzert. Nun also: Kaissariani. Der traditionelle Arbeiterbezirk von Athen. Schon immer links regiert, von der KP oder der Linksallianz. Wir kennen den Ort, den Park, wo wir auftreten werden, waren vergangenes Jahr mit Natalia und ihrer Mutter Anna schon da. Und: Wolfram und ich haben vor 19 Jahren, als QUIJOTE noch „Liederhaken“ war, da gespielt, beim Odigitis-Festival 1986, am anderen Ende des Parks, am Fuße des Berges Imitos. Eines unserer größten Erlebnisse, 20000 Menschen, Jannis Ritsos saß in der zweiten Reihe. Vielleicht kommt auch daher unsere Nähe zu Griechenland. Der Veranstaltungsort ist geschichtsträchtig. Der Skopeftirio, der Schießplatz, war im zweiten Weltkrieg Stätte von unzähligen Hinrichtungen griechischer Partisanen und Geiseln durch die deutschen Faschisten. Das Areal ist bis heute Schießplatz des örtlichen Schützenvereins, die Bürger von Kaissariani kämpfen seit Jahren dagegen, der Bürgermeister des Stadtteiles ist deswegen vor kurzem verhaftet worden und in einen Hungerstreik getreten. Eine offizielle Gedenkstätte gibt es bis heute nicht, aber die Einwohner haben begonnen, selbst ein Mahnmal zu errichten, Ende Juni wird es fertig sein. Zum 60.Jahrestag der Befreiung gibt es in Kaissariani mehrere Veranstaltungen, die erste war eine Aufführung von Brechts „Furcht und Elend des III. Reiches“ in Griechisch, die letzte ist unser Abend mit Theodorakis-Liedern in deutscher Sprache. So schließt sich wieder ein Kreis. Kaum zu glauben, die Veranstalter haben extra für unser Konzert einen Flügel herbeigeschafft, ein wunderbarer Klang. Gegen 21 Uhr, die Uhren in Griechenland ticken etwas gemächlicher, beginnt die Veranstaltung. Der stellvertretende Bürgermeister von Kaissariani, Spyros Tzokas, spricht die Begrüßungsworte, dann hält der deutsche Botschafter eine kurze Rede in Griechisch und kündigt uns an. Das Konzert ist ganz anders als am Vortag. Dort die Intimität des kleinen Saales, hier die Weite des Platzes zwischen den Mauern des Skopeftirio.

Wir singen ins Dunkle, spüren die Nähe der Leute. Es ist wieder diese wunderbare Atmosphäre zwischen Stimmung und Spannung, Neugier und Mitgehen. Natalia liest die Grußbotschaft der VVN-BdA Chemnitz vor, wieder der spontane Beifall. Nach dem letzten Lied: Viele im Publikum stehen auf, wir bekommen jeder einen Blumenstrauß überreicht, der Beifall ist sehr lang und herzlich, wir werden noch eine Zugabe spielen, aber ich muß vorher noch etwas sagen. Wir hatten es kurz vor dem Konzert erfahren, und viele der Zuschauer sicher auch: Am Nachmittag ist Harilaos Florakis, der langjährige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Griechenlands, gestorben. Wolfram und ich hatten ihn 1986 hier in Kaissariani kennengelernt. Wieder holt uns die Geschichte ein. Ich erzähle den Zuschauern von dieser Begegnung, wir verneigen uns vor einem bedeutenden griechischen Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit. Nach der Zugabe nehmen wir unsere Blumensträuße und legen sie am provisorischen Mahnmal für die Ermordeten im Skopeftirio nieder. Noch einmal Beifall. Dann, es ist immer wieder berührend, kommen unzählige Leute auf uns zu, drücken uns die Hände, umarmen uns. Beim Abbauen komme ich mit einem der Techniker, er ist vielleicht Anfang zwanzig, ins Gespräch. Wo spielt ihr noch in Griechenland? Was, nur die zwei Konzerte? Ihr müßt unbedingt wiederkommen. Das war wunderschön, so habe ich Theodorakis noch nicht gehört. Später, beim Abendessen auf der Platia, der Bürgermeister von Kaissariani hat eingeladen, lernen wir Vangelis Sakkatos, den Vater von Natalia kennen. Sie hatte uns schon viel von ihm erzählt. Er war 1960 mit seiner Frau Anna nach Deutschland emigriert, war während der Junta-Zeit unter anderem Mitbegründer und Vorsitzender der gesamtgriechischen antidiktatorischen Union Rhein-Wupper-Kreis und Leverkusen und Mitbegründer des Koordinationsbüros der griechischen antidiktatorischen Komitees der BRD, lebt seit Anfang der 90er Jahre wieder in Griechenland, ist nach wie vor aktiv im Athener Friedensforum. Er erzählt uns auch von der Zerrissenheit der griechischen Linken. Uns kommt das, aus Deutschland, alles sehr bekannt vor. Es ist schon früh, als wir im Hotel ankommen, wir genießen noch ein wenig die warme Nacht auf der Terrasse, der Mond steht genau über der Akropolis. Der nächste Tag ist frei, wir haben Zeit, durch Athen zu schlendern, das Wetter ist herrlich, nicht zu heiß. Ich glaube, wir laufen alle Straßen und Gassen der Plaka ab. Irgendwann entdecken wir einen Laden mit traditionellen Musikinstrumenten, probieren einige Bouzoukis aus, der Händler macht uns einen guten Preis, wir können nicht widerstehen. Später, wir sitzen in einer kleinen Eckkneipe am Rande der Plaka, auf der Straße werden die ersten schwarzgebrannten CD’s mit dem griechischen Siegertitel vom Grand Prix feilgeboten. Nur ein Australier interessiert sich dafür: How much? Five Euro. No, thank you. Vorbei, ist ja schon zwei Tage her. Am Abend treffen wir uns nochmal mit Natalia. Wir gehen zum Herodes Attikus, jenem Amphitheater am Fuße der Akropolis. Dort gibt es das alljährliche Konzert mit dem Theodorakis-Volksorchester und natürlich die Musik von Theodorakis. Wir lauschen von draußen, das ist preiswerter. Dann, es ist schon spät, kaum noch Touristen unterwegs, nochmal Rast in der Plaka, etwas essen, einen Retsina, wir haben ein paar Geschenke dabei. Für Natalia eine Gundermann-CD, für ihre Kinder Pittiplatsch und Schnatterinchen. Am Hotel eine letzte Umarmung, bis nächstes Jahr? Bis nächstes Jahr. Gegen Mittag geht der Flieger, wir checken ein. Oh, eine Bouzouki, ihr seid Musiker, habt hier gespielt. Gute Reise! Keiner fragt nach der Gitarre im Handgepäck. Aus der Luft ein letzter Blick auf Athen, auf Griechenland, ach, viel zu schnell vorbei. Wir wissen, wir kommen wieder.